Keine Zeit, die Rosen zu betrauern, wenn die Wälder brennen

Keine Zeit, 
die Rosen zu betrauern, wenn die Wälder brennen

Im Rahmen des Mentoring-Programms OP_YOUNG treffen sich in den Räumen von OP ENHEIM erneut junge Künstlerinnen und Künstler, die über schwierige, aber auch sehr aktuelle Themen reflektieren. Mit der Sprache der Kunst analysieren sie Themen, die für sie wichtig, manchmal auch sehr persönlich sind, und heben sie gleichzeitig auf eine universelle Ebene. Wir freuen uns, dass wir gemeinsam mit der Stadt Wrocław und dem Schirmherrn des Programms, der Berliner Notar- und Rechtsanwaltskanzlei GENTZ, diesen Prozess erneut begleiten, aktiv mitgestalten und unterstützen können.

***

Die Zeit, in der wir leben, stellt uns vor viele Herausforderungen. Auf der einen Seite verlangt sie, dass wir die Vergangenheit weiter aufarbeiten und analysieren, auf der anderen Seite fordert sie, dass wir uns mit unserem immer schnelllebigeren Alltag auseinandersetzen, dem futurologische und postdigitale Aspekte nicht fremd sind. In ihren Reflexionen greifen die jungen Künstlerinnen und Künstler schwierige und hochaktuelle Themen auf. Mit der Sprache der Kunst analysieren sie Themen, die ihnen wichtig sind, die manchmal sehr persönlich sind und die sie auf eine universelle Ebene heben. So finden wir in dieser Ausstellung Bezüge zu Totalitarismen und systemischer Unterdrückung, menschlicher Gier und der zerstörerischen Kraft des Individuums, auch im Kontext von Inbesitznahme, Vereinnahmung und Zerstörung.

Vor nicht allzu langer Zeit haben wir auch in Polen die Unterdrückung durch ein System erlebt, dessen Rückstände wie ein harter Kern in unsere Mentalität eingewachsen sind. Im Laufe der Jahre ist dieses System unbemerkt in unser Leben eingedrungen und hallt weiterhin in unserem Alltag wider, während es unbemerkt seine Saat in den nachfolgenden Generationen ausbringt. Die aus Weißrussland stammende Künstlerin Ala Savashevich, die sich seit Jahren mit dem kollektiven Gedächtnis und der Identitätsbildung in Gesellschaften mit autoritären und patriarchalischen Erfahrungen beschäftigt, greift auch in ihrer neuesten Installation ähnliche Themen auf.

Auf der formalen Ebene spielt die Künstlerin auf die von Joanna Sokołowska kuratierte Ausstellung >Broń i Chroń< (Waffen und Schutz) an, in der ein stark exponiertes Kettenhemd eine wichtige Rolle spielte.

Diesmal ist es diskret in einem Dickicht aus sorgfältig gekämmten Leinenwerg versteckt und spricht zu uns unter den vervielfältigten Bildern von Musterschülerinnen und -schülern hindurch. Es wird zu einem Kern, einem Rückgrat, das im Laufe der Jahre vom System geformt wurde, das unmerklich die ahnungslosen jungen Köpfe geformt hat und sich mit der Zeit in einen integralen Bestandteil ihrer Mentalität verwandelt. Unserer Mentalität. Wir erinnern uns noch an das Grau der kommunistischen und postkommunistischen Welt, an feierliche Versammlungen, feierliche Aufmärsche und den Kodex des vorbildlichen, unproblematischen Bürgers... Systematisch geschult, vorbildlich gezähmt und auf richtiges Denken programmiert. Homo sovieticus. Die Künstlerin konfrontiert uns, die Betrachter, mit ihrer eigenen Erfahrung und Erinnerung. Sie provoziert uns, uns Fragen zu stellen, darunter die, wo das System endet und wo wir beginnen? Der Moment des Durchbruchs ist der schwierigste - es ist schrecklich zu lesen und sich bewusst zu werden - wie Savashevich sagt - sich selbst und das System, in dem man aufgewachsen ist, zu erkennen.

Ebenso intensiv beschäftigt sich Marcin Derda mit der Vergangenheit. Sein Werk mit dem Titel “Sicht in alle Himmelsrichtungen“ ist zwar persönlich, entwickelt sich aber zu einer vielschichtigen Erzählung von universeller Bedeutung. Indem er sich mit dem Thema der Erinnerung und dem Verlorenen auseinandersetzt, spricht der junge Künstler auf seine eigene, ungeschönte Art nicht nur über das System oder die Interessen des Staates, sondern auch über die schmerzhafte Aneignung von Identität, von Herkunft, sowie von Natur und Landschaft. In einer Zweikanal-Videoinstallation folgt er symbolisch den Spuren seiner Familie bei dem Versuch, ihren Wohnort in einem Dorf zu finden, das es nicht mehr gibt, nachdem sie in den 1980er Jahren vertrieben wurden. Der Ort, an dem sie ankommen, hat keine Ähnlichkeit mit dem Dorf, das in den Erinnerungen und Erzählungen der Großeltern und des Vaters des Künstlers festgehalten ist. Es handelt sich um ein überflutetes Bergbaugebiet, das die Natur wieder zu besiedeln versucht. Es ist von Bedeutung, dass am 18. Januar 1982 durch eine Entscheidung des Braunkohlebergwerks Konin (KWB) der Prozess der Enteignung des Dorfes Komorowo begann. Dies war kein Einzelfall - seit den 1940er Jahren waren in diesem Gebiet und in der weiteren Umgebung von Konin eine Reihe größerer oder kleinerer Flächen, darunter auch Häuser, dem Bergbau zugewiesen worden. Vertreibung, Entwurzelung und die Bedeutung staatlicher und wirtschaftlicher Belange gegenüber dem Wohlergehen des Einzelnen werden zum Hauptthema in dieser Geschichte, die wir auch im Kontext der Vertreibungsaktionen der Nachkriegszeit analysieren können. Bemerkenswerterweise scheint der Künstler von dem Thema, das er darstellt, ungerührt zu bleiben. Nicht einmal für einen Moment verrät er seine Meinung oder gar einen Werterahmen, der uns zu einer richtigen Interpretation führen könnte. Stattdessen lässt er uns mit den Gefühlen allein, die die kalte, verwüstete, wenn auch bisweilen bezaubernd schöne Landschaft hervorruft. Es ist, als wollte er unsere Aufmerksamkeit auf wichtigere Themen wie die Zerstörung der Natur, die Ausbeutung von Lagerstätten oder die Verwüstung von Ökosystemen lenken. Zweifellos ist dies also eine sehr beeindruckende Geschichte einer Landschaft, ihres Verschwindens und ihrer Verwandlung, die für das menschliche Auge sichtbar ist, aber auch durch das Prisma der zyklischen Natur dargestellt wird, in deren unveränderlichen Rhythmus unser Handeln eingeschrieben ist.

„Podobnie, jak postęp.“ (So wie der Fortschritt.) Klaudia Kasperska lädt uns in diese bunte Welt ein. Mit ihrer Installation spielt sie auf ihre eigene Weise mit dem Betrachter. Einerseits zeigt sie uns ein räumliches Werk im Geiste der wohlbekannten Maria Jarema, andererseits führt sie uns in eine völlig digitale, oder besser gesagt postdigitale Welt ein. Sie fragt den ahnungslosen Betrachter nach seiner Verwurzelung in einer technologisierten Realität und danach, ob er sie überhaupt noch wahrnimmt. In dieser scheinbar einfachen, experimentellen Kunst stecken viele wichtige Fragen zur Identität des heutigen Menschen, der einerseits mit der zunehmenden Digitalisierung zu kämpfen hat und andererseits so tief in sie eingetaucht ist, dass es ihm schwerfällt, ohne sie normal zu funktionieren. Erinnern wir uns jedoch daran, dass der Begriff "postdigital" in Klaudia Kasperskas Werk nicht nur die gesellschaftliche Haltung gegenüber digitalen Technologien beschreibt - er veranschaulicht auch eine bestimmte visuell-perzeptive Beziehung, d.h. wie digitale Technologien in den letzten Jahrzehnten unser Empfinden und unser visuelles Bewusstsein verändert haben. Genau dieser Wandel ist das Hauptmotiv der künstlerischen Erkundungen der Künstlerin aus Wrocław, der auf das von Kasperska präsentierte Objekt übertragen wurde. Die Übersetzung der Malerei von Maria Jarema in die Sprache einer kinetischen Lichtinstallation ist hier der Versuch, das flache, traditionelle Medium in eine räumliche Vermählung des Digitalen, des Elektronischen und des Multidimensionalen zu verwandeln. Die Künstlerin entzieht den eindimensionalen Formen ihre Flachheit und Materialität, behält aber gleichzeitig den Eindruck ihrer Vergänglichkeit und Halbmaterie bei, so wie Vergänglichkeit und Halbmaterie die Produkte der digitalen Kultur sind.

In welche Richtung bewegen wir uns also? Katarzyna Bogusz regt uns mit ihren Arbeiten zum Nachdenken über die grundlegenden Wahrheiten der Existenz an. Sie verwendet das Motiv des Steins der Weisen, das sich hier in Form eines goldenen, mehrwandigen Objekts manifestiert. Seine Form, die von einem bekannten Motiv aus Dürers Melancholia I abgeleitet ist, wird in Bogusz' Werk dekonstruiert. Die Künstlerin entfaltet vor uns die kombinierte Materie des Steins und enthüllt gleichzeitig, dass er innen leer ist. Sie kombiniert in diesem Objekt die Ideen der westlichen und östlichen Kultur und macht diese Leere zum Äquivalent der Vollkommenheit. Nach der buddhistischen Tradition führt das Erlöschen des Bewusstseins zu einem Zustand der vollkommenen Leere des Geistes, der sehr oft mit Erleuchtung in Verbindung gebracht wird. Der Prozess, das Verständnis, das durch Suche und Praxis erreicht werden kann, zeigt, dass die Essenz, diese ideale Substanz, die seit Jahrhunderten ersehnt wird, genau die Leerheit ist, die immer verfügbar ist und oft verkannt wird - wie der Stein der Weisen nach Mircea Eliade. Die Kerzen „* †“, die im Raum stehen, stellen einen symbolischen Übergang dar. Überfluss und Mangel, Geburt und Tod stellen in dieser Sichtweise das Tor der Zeit dar.

Vier Haltungen. Vier Stimmen und vier zeitgenössische Themen. Alle ausgestellten Werke erzählen auf ihre Weise eine Geschichte über die Zeit aus verschiedenen Blickwinkeln und sind gleichzeitig Ausgangspunkt für ein generationenübergreifendes Gespräch.

Die Ausstellung bildet den Abschluss der vierten Ausgabe des Mentoring-Programms für junge Künstler aus Niederschlesien, das seit 2020 läuft und das Ziel hat, die lokale Kunstszene zu unterstützen und zu stärken. Die Gewinner der letztjährigen Ausgabe waren Katarzyna Bogusz und Klaudia Kasperska ex aequo, während ehrenvolle Erwähnungen gingen an: Marcin Derda und Ala Savashevich.

Kama Wróbel

___

* "Lilla Weneda" ist ein Drama von Juliusz Słowacki aus dem Jahr 1839. Es erzählt die Geschichte des Schicksals der verfeindeten Familien Veneda und Lechita und ihres Kampfes um Land und Macht. Als Allegorie auf das Schicksal Polens während des Novemberaufstandes gelesen und als Mythos stilisiert, ist die Struktur von der keltischen, slawischen und nordischen Mythologie inspiriert.

Close