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Trwając bez powrotu | Jessica Ostrowicz

Bleiben ohne Heimkehr
Jessica Ostrowicz

Kuratorin: Philine Pahnke

  • ▪ Eröffnung: 16. Juli 2025, 19:00 Uhr
    ▪ Dauer der Ausstellung: 16. Juli – 28. September 2025

„Was einmal zerbrochen ist, kann nie wieder ganz werden. Wir können nie wieder zu dem Zuhause zurückkehren, das wir verlassen mussten. Wir greifen vielleicht zurück, um die Vergangenheit wiederherzustellen, aber die Zeit formt alle Dinge neu. Wir können nie zweimal im selben Augenblick sein.“

Jessica Ostrowicz, 2025

Der Zustand des Zerbrochenen, Zerstörten und nur bedingt Reparablen im Leben eines Menschen ist eines der Hauptthemen der britischen Künstlerin Jessica Ostrowicz (*1990). In ihren Papierarbeiten, Installationen, Skulpturen und Filmen setzt sie sich mit Möglichkeiten der Rekonstruktion und Wiedergutmachung auseinander. Sie fragt nach Zugehörigkeit und danach, was »Zuhause« für Menschen bedeutet, die ein solches verloren haben.

Jessica Ostrowicz wuchs in dem Wissen auf, dass Teile ihrer Familie aufgrund europäischer Pogrome fliehen mussten und zahlreiche Angehörige ihres erweiterten Familienkreises in der Shoa ermordet wurden. Ihre Großmutter kam nach der Flucht aus Litauen nach England.
Und erst nach dem Tod ihres Großvaters erfuhr sie von dessen jüdischer Abstammung, über die er zeitlebens nie gesprochen hatte. Großvater Tadeusz Kazimierz Ostrowicz (1931–1991) stammte aus Polen, aber seine Familie war zum Katholizismus konvertiert, um antisemitischen Anfeindungen und Verfolgung zu entgehen. 1939 verschwand sein Vater; erst Jahre später stellte sich heraus, dass er wie tausend weitere polnische Kriegsgefangene während des Massenmordes von Katyń durch Einheiten der sowjetischen Geheimpolizei NKWD ermordet worden war. Trotz seines jungen Alters überbrachte Tadeusz Ostrowicz Botschaften zwischen Mitgliedern der polnischen Widerstandsbewegung. Auf ständiger Suche nach seinem Vater versuchte er bereits als 14- Jähriger mehrfach erfolglos, aus Polen zu entkommen. Erst beim vierten Mal gelang ihm die Flucht nach Frankreich. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs siedelte er im Alter von nur 16 Jahren nach England über. Seine jüdische Herkunft hielt der Großvater ebenso verborgen wie die große Menge Banknoten hinter einer falschen Rückwand des Kleiderschranks und die Kisten voller Vorräte im größten, immer verschlossenen Schlafzimmer des Hauses – Ausdruck einer steten, stillen Angst vor etwas unbestimmt Schrecklichem, das sich jederzeit wiederholen konnte. Jessica Ostrowicz fragt als Überlebende der dritten Generation nach dem Erinnern und Weiterleben nach der Shoa. Die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte und transgenerationalen Traumata sind zentrale Themen ihres künstlerischen Schaffens.

Die Arbeit „Wailing Wall“ aus dem Jahr 2020 zeigt tausende Vögel, geschnitten in weißes Backpapier. Aus der Ferne erkennt man die Vögel, doch erst die unmittelbare Nähe offenbart auch Einschnitte, in die man Gebetszettel stecken kann, ganz wie an der Klagemauer in Jerusalem. Der unbegreiflichen Trauer verleiht „Cleave“ Ausdruck. Hier nimmt die Technologie die Rolle einer Prothese ein – eine Unterstützung zur Bewältigung eines nicht zu fassenden Verlusts. Vier stählerne Körper, so groß wie die Mitglieder von Ostrowicz’ Familie, gehüllt in dekonstruierte, mit Steinen gefüllte Kleidung, die sich unter ihrem eigenen Gewicht langsam auflöst, beginnen zu klagen, sobald im Raum gesprochen wird. Die integrierten Wasserpfeifen aus Bein und Harz erklingen stellvertretend für diejenigen, die ihrem Schmerz nie in seiner ganzen Tiefe gerecht werden können. Jessica Ostrowicz kehrt mit diesen Arbeiten zu ihren eigenen biografischen Erfahrungen zurück und verbindet sie mit den Erinnerungen ihrer Familie. Als Kind las die Künstlerin ein Buch über einen trauernden Jungen, der unermüdlich nach einem Weg zu seinem verstorbenen Vater sucht. Ihre skulpturale Arbeit „Get to Heaven“ lässt die Erinnerung an eben diese Geschichte
lebendig werden. Die kindliche Vorstellung, dass dieses Hemd die Vögel vom Himmel herab lockt, sie dann beginnen die Hiobstränengras-Samen vom Stoff zu picken und das Kind so davontragen, damit es seinen Vater wiedersehen kann, findet hier Ausdruck. Diesen davonfliegenden Vogelschwarm, der sich vom Papier erhebt, fängt die Künstlerin in „Flock“ mit Dampf auf temperatursensiblem Untergrund ein.

Wie jene Vögel, die als Motiv in ihrem Gesamtwerk eine wichtige Rolle spielen, sammelt auch Jessica Ostrowicz unermüdlich Fragmente ihrer Umgebung. In einem Akt, so selbstverständlich wie ein Kind, das einen Stein aufhebt, trägt die Künstlerin Dinge zusammen, die auf den ersten Blick kaputt oder gar wertlos erscheinen mögen. Viele ihrer Arbeiten finden in diesen organisch wachsenden Archiven einen Anfang. Die Installation „Archive of Exhales“ besteht aus tausend historischen Tonpfeifen und Tonpfeifenbruchstücken aus der Themse, die Jessica Ostrowicz über Jahre hinweg sammelte. In einer begleitenden Klanginstallation vollendete die Künstlerin den Atemzyklus jener Menschen, deren letzter Kontakt mit den Pfeifen das Einsaugen des Rauches und das anschließende Wegwerfen war, mit einem Ausatmen durch jede einzelne Pfeife.

Gleich dem jüdischen Ritual, mit einem Stein auf Gräbern seine Trauer auszudrücken und damit etwas von sich selbst zurückzulassen, bindet sich Jessica Ostrowicz an ihre Arbeiten. Durch die persönliche Geste und Interaktion gibt die Künstlerin gleichsam ein intimes Versprechen des Erinnerns ab und versucht sich an behutsamen Reparaturen, oft mit Hilfe gefundener kleiner Steine. So fügt sie in „Grandma’s Plates“ zerbrochenes Familiengeschirr mit Steinen neu zusammen, die sie an für sie biografisch bedeutsamen Orten aufgelesen hat. Die ursprüngliche Funktion bleibt unwiederbringlich verloren, doch im sorgsamen Versuch der Reparatur zeigt sich der Verlust in all seiner Undurchdringlichkeit, zugleich aber auch das Werden eines neuen Objekts mit eigener Geschichte und Bedeutung. Ähnlich verhält es sich mit einem verlassenen Vogelnest, das sie nach dem Tod des Großvaters in dessen Schuppen fand. Vögel hatten hier nicht nur Geäst und Gräser zusammengefügt,
sondern auch Teile des großelterlichen Hausrats und Gartens und damit ein neues Heim geschaffen. Wie Vögel, die Fragmente ihrer Umwelt in ihrem Nest verbauen, webt nun die Künstlerin ihre eigenen, feinen Spuren in das Geflecht und flickt verlassene Nester zusammen. Auch zufällig bei Spaziergängen gefundene Vogeleier liest die Künstlerin auf und findet neue Ordnungen in den Bruchstücken. So entsteht die seit 2021 laufende Serie mit dem Titel „Pareidolia (Home)“ aus der Praxis des beiläufigen Sammelns heraus: Ostrowicz lässt Muster auf dem Papier wachsen, welche die subtilen Farbverläufe der Eierschalen sichtbar machen und analogisch zum Verlust und Wiederaufbau eines Zuhauses stehen. Am Ende muten sie in ihrer Erscheinung wie Wurzeln oder Adern an. Mit einem leisen Optimismus lässt die Künstlerin etwas entstehen, das die Erinnerung an das Verlorene bewahrt und es doch wagt, neu und vollständig zu sein.

Seit 2023 ist Jessica Ostrowicz auch als Dozentin in einem Gefängnis für männliche Straftäter beschäftigt. Gemeinsam mit den Insassen spürt sie der vielschichtigen, ambivalenten Rolle nach, die das »Zuhause« in einem Erwachsenenleben einnimmt – ein Thema, das seit mehreren Jahren im Mittelpunkt ihrer künstlerischen Praxis steht. Dabei reflektiert sie ihre eigene Herkunft genauso wie die Geschichten der Männer, die sie unterrichtet. Die „Waiting Writings“ lassen eine kollaborative Erzählung zwischen ihr und ihren Schülern entstehen. Die Worte, inspiriert von Gesprächen und Beobachtungen, sind verfasst in verflüssigtem Papier, einer Technik, die Ostrowicz hierfür entwickelt hat. Mit der Skulptur Prison Nest setzt die Künstlerin der eigenständigen Arbeit ihrer Schüler ein Denkmal. Aus hunderten kleinen Papierfragmenten offizieller Gefängnis-Dokumente formen die Inhaftierten wandelbare Skulpturen, die – wenn als Dekoration gestaltet – eine Zelle in ein Zuhause verwandeln können. Regelmäßig werden diese aus eigenem Antrieb geschaffenen Kunstwerke von den Wärtern zerstört. Nur die Künstlerin trägt eines dieser regenerativen Werke, das im Unterricht durch die Hände unzähliger Schüler gegangen ist, aus den Gefängnismauern in die Außenwelt. Über die rein künstlerische Arbeit hinaus, setzt sie sich auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit dem Konzept von Zuhause im Kontext von Dekoration und Geborgenheit in Gefängniszellen auseinander. Auf eine andere Weise spürt sie hier dem flüchtigen Moment nach, in dem ein Ort zum Zuhause wird. Es ist diese unermüdliche Suche, die Jessica Ostrowicz nicht loslässt und ihre gesamte künstlerische Praxis durchdringt.

Philine Pahnke

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▪ Veranstalter: OP ENHEIM, VOP, KUNSTHAUS DAHLEM
▪ Ehren Patronat: WOMAK Holding SA
▪ Patronat: SDZLEGAL Schindhelm
▪ Partner: Freundeskreis Kunsthaus Dahlem, Axel Springer Stiftung, OPEN Reklama Oksana Solnik Krzyżanowska, Heinle, Wischer und Partner Architekci, KEIM
▪ Medien Patronat: SZUM, MINT Magazine, TVP Kultura, NN6T, Rynekisztuka.pl, Format Pismo Artystyczne, Radio Wrocław Kultura, Well.pl, Miej Miejsce, Artinfo.pl

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Kuratorin: Philine Pahnke
Produktion: Natalia Budzińska 
Promotion: Natalia Gaj 
Visuelle Identität: Jurek Mossakowski
Umsetzung: Łukasz Bałaciński, Marcin Pecyna
Übersetzung: Karol Waniek, Volkmar Umlauft
Zusammenarbeit: Karolina Jara, Weronika Kałuża, Iga Mikuśkiewicz, Magdalena Musiał, Walentyna  Shaiko, Ivan Shpak, Agnieszka Śrutwa, Viktoriia Tofan, Agnieszka Wróblewska

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